Die Reihenfolge der Summanden ist egal

Neulich auf meinem Balkon will ich den Zustand der Welt betrachten.
Ich sitze also da, und schaue.
Nichts Besonderes.
Ein Baum mit frischgrünen Blättern, die der Wind bewegt. Nur leicht, nur wenig Wind.
Zwischen den Ästen des Baumes blinkt dann und wann etwas Gelbes auf: Die Balkonbrüstung des Nachbarhauses.
Da ist nichts.
Ich nehme einen Schluck Kaffee aus einem Becher, auf dem „Mia san mia“ steht.
Ich schaue auf. Nichts irgendwie.
Der Baum zum Reingreifen nah, gelbe Balkonbrüstungen am Wohnhaus gegenüber, wahrscheinlich bei der Sanierung des Hauses nachgerüstet, zwischen uns und ihnen der Spielplatz.
Nichts, das mir über den Zustand der Welt Auskunft gäbe.
Ich gehe hinein, klappe den Laptop auf und gebe bei Google „Weltzustand“ ein.
Es folgt die Frage, ob ich Weltzustand günstig erwerben wolle.
Es poppt ein Zahnkosten–Optimierer auf.
Ich nehme meinen Platz auf dem Balkon wieder ein.
Über mir jetzt die Kanzlerin im Hubschrauber.
Ich sehe nach unten.
An der Stelle, wo vor zwei Wochen die Drehplatte abgebaut wurde, weil Drehplatten für nicht drehplattengeübte Kinder gefährlich sind, sitzen zwei Teenager und tippen etwas in Mobiltelefone.
Ich lehne mich zurück.
Auf diese Weise sind meine Augen auf Höhe der am dichtesten bewachsenen Stelle des Baumes. Ich sehe nichts als den Baum, würde nichts dahinter erkennen können, wenn ich nicht sowieso wüsste, was dahinter ist.
Im Herbst wirft der Baum seine Blätter ab und gibt endlich den Blick frei.
Doch ich erinnere mich an keine Erkenntnis, die ich in einem Herbst hieraus gezogen hätte.
Man sieht Leute in den Wohnungen mit den gelben Balkons hin- und herlaufen.
Es ist, wie wenn man in ein Aquarium schaut.
Wie bei „Das Fenster zum Hof“.
James Stewart/Jeff sitzt da und glaubt etwas gesehen zu haben, wobei das Problem ist, dass er es eben nicht gesehen hat.
Also gut.
Obwohl einiges im Leben ist wie bei „Das Fenster zum Hof“…
James Stewart/Jeff/wir können sehen, dass seine Nachbarin unglücklich ist und einen Mann herbeisehnt – er/wir können uns dessen jedenfalls ziemlich sicher sein, denn wirklich sichtbar sind diese Dinge ja nicht – nur können er/wir – sofern wir nicht selber diese Lücke ausfüllen möchten, was unter Umständen auch gar nicht gewollt wäre – nichts, aber auch gar nichts tun.
Es ist alles komplizierter.
Unten steht einer und macht Tai Chi. Merkwürdig ist, dass er dabei mit dem Rücken zum Park, also mit dem Gesicht zu unserer Hauswand steht.
Auf solche Leute muss man achten, so hört man, weil sie eventuell den Sport nur vortäuschen könnten, um eigentlich währenddessen in Ruhe unser Haus auszuspionieren nach dem günstigsten Zeitpunkt, uns alle auszurauben.
Ein möglicher Gegner mit möglichen fernöstlichen Techniken.
So was wie Aktienhandel.
Ich setze mich wieder aufrechter, atme tief ein und schließe mit dem Ausatmen die Augen.
Jetzt könnte ich dabei noch die Arme ausbreiten und hätte also eine Technik entwickelt, die es zulassen würde, dass ich mich etwas zuordnen könnte.
Es ist ganz still geworden da unten. Fast wäre mir die plötzliche Ruhe entgangen.
Die Kinder sind weg.
Nur der Tai Chi–Mann ist noch da.
Hinter einer der gelben Balkonbrüstungen – eine, an der keine Blumenkästen angebracht sind – werden Vorhänge zugezogen.
Verbrechen oder Mittagsschlaf.
Reise oder Krankheit.
Sonnenschutz oder Selbstmord.
Mein Balkon ist dieses Jahr ganz gut gelungen, ohne großen Aufwand.
Ein Wunder, wie manche Pflanzen diese Winter überstehen: Zu trocken, zu kalt.
Und diese Frühlinge: Zu nass, zu kalt.
Mein Blick fällt auf die Flasche mit dem Flüssigdünger von einem Hersteller, der sich als „Der Lieferant für die Gärten der Welt“ bezeichnet.
Universaldünger. Giftgrüne Flasche.
Aber die Pflanzen mögen ihn.
Ich sehe einem Meisenpaar bei der Wohnungsbesichtigung zu. Sie brauchen nicht lange – wahrscheinlich gefällt ihnen der Duft nicht, den die Vormieter im Meisenkasten zurückgelassen haben.
Ich lege die Füße auf einen Hocker und schließe die Augen.
Die Stille ist gar nicht still. Nur die Kinder sind weg.
Ich höre also laut minus Kinder.
Einfache mathematische Operationen können bei der Erklärung des Weltgeschehens vielleicht helfen:

   Fukushima

+ Somalia

+ Taksim

+ Auschwitz

+ Guantanamo

+ Odenwald

+ New York

+ IS

= Die Gärten der Welt

Die Reihenfolge der Summanden ist egal (Vertauschungsgesetz der Addition).
Klammern dürfen umgesetzt oder weggelassen werden, es ergibt sich trotzdem der gleiche Wert der Summe (Assoziativgesetz oder Verbindungsgesetz der Addition).

Pflanzen der westlichen Industrieländer

–  Gärten der Welt-Dünger

= schlimmstmöglicher Balkonburnout

Die Menge der natürlichen Zahlen ist bezüglich der Subtraktion nicht abgeschlossen, das heißt mit der Subtraktion erzielt man eventuell ein Ergebnis, das den Bereich der natürlichen Zahlen überschreitet.
Die Differenz kann negativ sein.
Ich sehe mich um nach etwas, das meine Beunruhigung relativieren könnte, doch da ist nichts außer der Tatsache, dass ich an einem anderen als einem der oben genannten Orte bin, und somit keine unmittelbare Gefahr droht.
Mir bleibt nichts, als weiter zu versuchen, von hier aus die Dinge zu betrachten.
Der Baum macht meinen Balkon zu einer lauschigen Laube.
Äste wiegen sich sanft im Wind. Ab und zu blinkt es balkongelb und himmelblau dazwischen auf, und das Schönste ist das sanfte Rauschen und leise Rascheln der Blätter, wenn der Wind sie in Bewegung versetzt. Wie schöne Musik.
Ich selbst mache selten Musik an. Es ist dann nämlich doch nie die, die ich gerade hören will, und dann weiß ich nicht mehr, was ich überhaupt hören will, und dann werde ich nervös.
Besser, wenn mir andere ihre Musik aufdrängen.
Dann kann ich wahlweise schwelgen, weil es genau die Musik ist, von der ich nicht wusste, dass ich genau die gerade hören möchte, oder ich kann mich ärgern, dass mir jemand gerade mal wieder seine Musik aufdrängt.
Es gibt so viele rücksichtslose Menschen.
Und es gibt ein rücksichtslos großes Angebot an Musik, aus dem ich wählen kann, seit ich nicht mehr vor dem eigenen Plattenregal stehe oder auf Mix-Kassetten herumspule.
Die Differenz kann negativ sein.
Da ist wieder ein leichter Wind, und ich schließe die Augen, weil es so schön ist. So ein sanfter Wind, so ein schönes Rauschen im Blätterwald.
Ich kann jetzt einfach aufhören zu denken, und das alles hier genießen. Den Moment genießen.
Schwierig, den Moment für sich, ohne die Abgrenzung zu allem anderen zu genießen: Hier ist es jetzt so schön weil es theoretisch auch hier jetzt so schrecklich sein könnte wie woanders gerade in diesem selben Moment.
Gibt es in Aleppo oder in Pjöngjang auch gerade für jemanden so einen Moment: Sanfter Wind, Blätterrauschen, ein gemütlicher Stuhl auf dem Balkon oder der Terrasse?
Ist es dann genau dieser SELBE Moment? Sanfter Wind, Blätterrauschen, ein gemütlicher Stuhl? Sitzt vielleicht in Aleppo gerade jemand auf einem Stein, unter einer Dattelpalme, sanfter Wind, Blätterrauschen, der Stuhl ist das Unwichtigste bei der Geschichte?
Gibt es in Aleppo überhaupt Dattelpalmen?
Ich lehne mich vor und beobachte eine winzige Ameise, die etwas schleppt, das größer ist als sie selbst.
Ich bin nicht sicher aber ich könnte jeder Zeit nachsehen.
Sicher ist, dass ein sanfter Wind um die Nase auch in Aleppo ein sanfter Wind um die Nase ist.
Ich sehe nach oben.
Schwer zu glauben, dass dem gleichen herrlich blauen Himmel mit diesem einen blütenweißen Wolkenbausch, aus diesem grenzenlosen, wunderbaren Himmel über mir woanders gerade Bomben abgeworfen werden.
Auf Dattelpalmen, Grashalme, Käfer, die gerade Schatten suchen, Hunde, die gerade Katzen jagen, Kinder, die gerade streiten, Balkons, die um diese Jahreszeit am schönsten sind. Auf Menschen, die gerade Wasser holen.
Ich bin so gesehen gar nicht woanders als da, wo das gerade geschieht. Ich bin unter dem gleichen Himmel, mein sanfter Wind ist vielleicht dort entstanden.
Über meinen Kopf fliegt das militärische Gerät auf dem Weg zu seinem Einsatz.
So, wie vorhin die Kanzlerin auf dem Weg zu einem Termin, bei dem sie eine Entscheidung wird fällen müssen, weil sie gewählt wurde, um in unserem Namen Entscheidungen zu fällen. Weit über meinem Kopf ist sie dahin geflogen worden. Auch dafür zahle ich Steuern. Für eine Flugbereitschaft, die jeder Zeit bereit ist für die Beförderung einer Kanzlerin, die in meinem Namen über den Verlauf des Weltgeschehens mitentscheidet. Und wenn es nicht die Flugbereitschaft ist, sondern die Fahrbereitschaft, weil der Termin in der Nähe ist, dann wird es ein Auto mit Katalysator oder sogar ein Elektroauto sein, mit dem sie sich auf den Weg macht.
In Aleppo ist vielleicht gerade erst die Dattelpalme, die noch zu googeln wäre, in einen von hier betrachtet sehr kleinen, winzigen Krater gestürzt, was zur Folge hat, dass die kleinen Grashalme und Käfer beinahe zeitgleich verkohlen, Hund, Katze, Mensch tot. Blut, Matsch, Knochen.
Der sanfte Wind trägt ein wenig Rauch in die Umgebung und dann ist es wieder still.
In Aleppo stürzt vielleicht gerade ein Balkon, der um diese Jahreszeit am schönsten ist, weil die Dattelpalme, die neben ihm in die Höhe schießt, so wundervoll Schatten spendet, in die Tiefe, mitgenommen von einem Haus, das in sich zusammenfällt.
Der sanfte Wind trägt ein wenig Staub in die Umgebung und den Nachhall einer Explosion, ein Zischen vielleicht, ein klickerklacker nachbröckelnder Steine.
Ich bin inzwischen in meiner vorgereckten Haltung verkrampft und lehne mich also wieder zurück.
Allmählich kommen die Kinder wieder.
Das rhythmische Knallen eines Lederfußballs, der in das Gitter des Bolzkäfigs getreten wird. Lachen, Streiten, das metallene Geräusch der Röhrenrutsche, wenn die Kinder Steine, Holz oder ihre Brotbüchsen hinuntersausen lassen.
Achtung, jetzt kommt eine Brotbüchsenbombe!
In der Kirche nebenan übt jetzt die Organistin.
Wir sind nur Gast auf Eeeerden.
Ich kenne das Lied aus einer anderen Zeit. Als ich Eltern um mich hatte, die sich ihrer Sache sicher waren im Vertrauen auf den guten Gott, dessen Tun nicht zu bezweifeln ist, der die Wahrheit ist und das Leben.
Die ewige Heimat, wo dann für alle alles gut ist, weshalb das hier – Fukushima, Aleppo, Katalysatoren, gar nicht wichtig ist.
Aber ich bin nicht mehr diese Christin. Ich habe beschlossen, mehr an das zu glauben, was ich sehe als an das, was ich so gerne sehen würde.
Und jetzt sitze ich hier und sehe herzlich wenig.
Dabei könnte ich meinen Computer hochfahren, hier auf meinen Knien auf dem Balkon, und könnte mich über den Zustand wo auch immer informieren. Ich könnte Dattelpalmen googeln und herausfinden, wie ein Katalysator funktioniert. Zwischendurch eine mail von campact, die mir anrät, mit einem Häkchen gegen die Privatisierung des Trinkwassers in meiner Heimatstadt zu votieren.
Ich kann mein T-shirt made in Bangladesh wütend in die Tonne pfeffern und fair gehandelten Kaffee für den dreifachen Preis kaufen.
Herr, Deine Liiiebe, ist wie Gras und Ufer.
Ich könnte meine Musik anmachen, lauter als die Orgel von nebenan und nur hören, was ich will.
Ich kann meiner katholischen Herkunft jederzeit den Hahn abdrehen und aus Solidarität Muslima werden.
Aber ich weiß nicht, welchen sound ich gerade hören will.
Ich beschließe also, mich der Akustik der Außenwelt zuzuwenden und beginne zu zählen, wie viele Martinshörner ich innerhalb der nächsten zehn Minuten höre. Es sind drei.
Dreimal entscheiden Sanitäter auf dem Weg zur Klinik, dass hier ein Leben in Gefahr ist, weshalb sie unbedingt die Vorfahrt brauchen.
Drei Leben in zehn Minuten.
Bei uns ist eben auch nicht alles immer toll.