Das Spoilerprinzip

Neulich habe ich mir eine Sanduhr gekauft. (Nicht, dass ich jemals gedacht hätte: Eine Sanduhr. Das ist es, was mir fehlt). Es war einer dieser Zufallskäufe im Vorbeigehen. Der feine Sand in dem zarten, zweifarbigen, elegant geformten Glas – das sah hübsch aus und war nicht teuer.          
Ein komisches Ding. Quasi die Verkörperung von drei Minuten.    
Halbzeit für‘s sechs-Minuten-Ei. Eine Minute länger, als das Taxi laut Standardansage braucht, bis es vor meiner Tür steht. Die Zeit, die ein handelsüblicher Popsong im Schnitt dauert.
Mit Hilfe meiner Armbanduhr überprüfe ich, ob der Sand wirklich genau drei Minuten braucht, um komplett nach unten zu rieseln. Das ist schwierig und ungenau, denn man muss mehrere Sinne miteinander koordinieren: Den Blick auf den Sekundenzeiger der Armbanduhr, das Steuern der Bewegungen „Sanduhr greifen und auf den Kopf stellen“, den Blick auf die Sanduhr. Auf die Idee, drei Minuten zu programmieren (im Küchenofen, im Handy, in wahrscheinlich jedem verfügbaren elektrischen Gerät) komme ich in dem Moment nicht.          
Nach mehreren Durchläufen einige ich mich mit mir auf das wahrscheinliche Ergebnis, dass die Sanduhr ziemlich, aber nicht ganz genau drei Minuten lang rieselt (eher ein bis drei Sekunden länger).
Dem hellen, feinen Sand zuzusehen weckt die Sehnsucht nach Strand. Warmer Sand unter den Füßen, das Rauschen des Meeres. Das Gefühl, dass unter dieser warmen, reinen Sandschicht nichts ist als eine etwas kühlere, noch reinere Sandschicht überwältigt den Verstand. Als riesele der warme, weiche Sand die Hirnwindungen voll.          
Natürlich fällt mir außerdem die Wüste ein. Drei Minuten sind hier dasselbe wie die Ewigkeit. (Vorher hatte ich geschrieben, „eine einzige Ewigkeit“, was natürlich Unsinn ist. Wie viele Ewigkeiten kann es denn geben?). Meine Sanduhr-Sand und seine drei Rieselminuten sind ein Nichts im Universum.           
Ich drehe das Glas wieder um, auf den Kopf (oder auf die Füße, je nachdem, von wo man die Sache betrachten will). Ich kann mich nicht entscheiden, was ich schöner finde: Die volle oder die leere Hälfte. Das zarte Häuflein, Ergebnis eines zuverlässigen Rieselvorgangs, oder die leere, durchscheinende Hülle, die nichts umgibt als Luft. Beliebig mit Gedanken befüllbarer und doch eingehegter Leerraum.         
Ich denke an Lawrence of Arabia. Und im gleichen Zuge an Operation Wüstensturm. Ein Film – ein Krieg.   
Ich sehe bei Wikipedia nach, wie es nochmal zum Namen „Operation Wüstensturm“ kam – ein Name wie der Titel eines Fiction-Films für einen realen Krieg: Dem „desert storm“ ging „desert shield“ voraus. Offenbar ging es darum, die Ruhe, die unendliche Weite und völlige Unantastbarkeit der Wüste zu verteidigen. (Ungefähr in der Art, wie ein Keuschheitsgürtel die Würde der Frau verteidigt).  
Irgendwie gefällt es mir doch etwas besser, wenn die orange eingefärbte Seite oben ist, und der Sand aus der Buntheit in die Farblosigkeit rieselt.
Drei Minuten nichts. Zum Beispiel in Form von unzähligen xxx auf dem Blatt. Wie viele Seiten müsste man wohl damit füllen, um drei Minuten Lesestoff, bestehend aus „x“, zu haben? (Die Auflage müsste sein, beim Lesen kein einziges x zu überschlagen). 
Das Tippen von x lässt sich auf jede mögliche Weise gestalten. Man kann jede Art von Rhythmus tippen. Oder ohne Rhythmus einfach draufloshämmern. Das schnelle, maschinengewehrartige Klackern lässt mich an das nervtötende Tastaturgeklapper denken, das so oft aus dem Zimmer meines Sohnes kommt. Nichts ist für mich mehr Ausdruck von Zeitverschwendung.  
Ich frage meinen Sohn, wie viele Männchen er bei seinem Computerspiel innerhalb von drei Minuten tötet. „Keine Ahnung“, sagt er. Darüber habe er sich noch keine Gedanken gemacht. Und was das für eine komische Frage sei und ich solle bitte die Tür zumachen, wenn ich sein Zimmer verlasse.
In drei Minuten wird in den Fernsehnachrichten der Rechtsruck in der Gesellschaft erklärt, oder die Nahost-Reise des Außenministers zusammengefasst (inklusive eines kurzen Rückblicks auf die entsprechenden Reisen früherer Außenminister).      
In einem naiv-romantisch angenommenen Früher hat es vermutlich mindestens drei Minuten gebraucht, um einen Topf Kartoffeln zu schälen, Rahm zu Sahne zu schlagen oder eine Kuh zu melken.       
Ich könnte nachsehen, wie viele Kinder weltweit durchschnittlich in drei Minuten sterben – oder geboren werden. Ich könnte die beiden Zahlen in Verhältnis zueinander setzen, und es wäre erschütternd.
Müßig, festzustellen, dass die Idee der Zeitmessung insgesamt sehr verwirrend ist. Eigentlich ist „Zeit“ eben eine sehr verstörende Angelegenheit – besonders, wenn man sie zusammen mit etwas so Endlichem und nicht Wiederholbarem wie dem Tod denkt.           
Genauso, wie es relevant ist, wie viele Kinder durchschnittlich weltweit in einem Jahr sterben, ist es von Bedeutung, wie viele Kinder in zum Beispiel Kirgisistan innerhalb von zwanzig Minuten oder in der Schweiz innerhalb von fünfundzwanzig Minuten sterben. Durchschnittlich, natürlich. Genauso relevant wie das eine Kind, dass in der einen Sekunde in Sindelfingen stirbt.           
Der einen Schweizer Mutter ist es gleichgültig, ob sie in dem Moment in diesem oder jenem Durchschnitt liegt, und die kirgisischen Eltern pfeifen auf die statistische Relevanz, die ihr totes Kind erlangt. Im zweiten Golfkrieg sind laut Wikipedia dreihundertfünfundsechzig Soldaten auf Seiten der Alliierten umgekommen. Einer pro Tag, innerhalb eines Jahres, die einhundertsiebenunddreißig US-Soldaten, die „durch Unfälle und andere Ursachen“ ums Leben gekommen sind, mit eingerechnet, davon ausgehend, dass ihr Tod doch irgendwie mit ihrem Aufenthalt in einem Krieg zusammenhängt.       
Die Angaben zur Zahl der toten irakischen Soldaten schwanken zwischen tausendfünfhundert und fünfundsiebzigtausend, aber immerhin weiß man auf US-Seite sehr genau, dass man einundsiebzigtausendzweihundertvier Iraker als Kriegsgefangene registriert hat (die vier kommen einem im Vergleich zu den anderen einundsiebzigtausendzweihundert irgendwie merkwürdig privilegiert vor). Und dann wäre da noch das von amerikanischer und britischer Seite verschossene Uran, das mit einer Halbwertszeit von siebenhundert Millionen Jahren unter Umständen für den Anstieg von Krebserkrankungen und Missbildungen verantwortlich ist. Man ist allerdings nicht sicher, ob eher hundert oder doch zweihundert Tonnen Uranmunition verschossen worden sind – oder eventuell auch das Zehnfache dessen.
Ich setze Kaffee auf. Ich fühle eine wachsende Verbundenheit mit dem Konzept einer Sanduhr. Mit der Idee des Rieselns (und Sprudelns) von Elementen in Zeit. Apropos Sprudeln: Neben Luft und eben Wasser ist Sand die am meisten genutzte aller natürlich vorkommenden Ressourcen. Wir brauchen ihn überwiegend zum Bauen von allem Möglichen, für unsere Straßen, Hütten, Paläste. Wir verbauen ihn über und unter der Erde. Der Sand der Wüste allerdings taugt nicht zum Bauen. Der ständige Wind schleift die Körner rund, so dass ihre Oberflächen nicht aneinanderhaften.           
Ich drehe die Sanduhr noch einmal um und finde es unbefriedigend, dass das Prozedere sich nicht beschleunigen lässt, obwohl man längst weiß, was passiert und was das Ganze soll.      
Wieder sind drei Minuten um, und das Häuflein im unteren, orangefarbenen Teil des Glases sieht aus wie der Kilimandscharo im Sonnenuntergang (ich war noch nie da, aber ein Stück davon liegt auf unserer Fensterbank, seit es uns eine Freundin mitgebracht hat), oder wie der Fuji auf einem der sechsunddreißig Bilder von Hokusai. Ruhe an sich – aber wenn man etwas länger hinguckt und seinen Gedanken ihren Lauf lässt, wird’s auch ein bisschen ungemütlich. Der Gedanke an die ewige Ruhe ist ja an sich eher ungemütlich.        
Ich halte die Sanduhr, die ja gerne als archetypisches Sinnbild für Vergänglichkeit genommen wird, vielmehr für eine Verbildlichung des Spoilerns: Man weiß, was am Ende passiert, will es aber eben nicht wissen, denn das prinzipiell Unerträgliche daran ist, dass das Ende nicht mehr ist als der neue Anfang. So sehr wir uns auch wehren und strampeln und immer neue Wellen respektive Häuflein erzeugen: Im Prinzip ist alles ein beständiges, immer wieder und wieder zum-Anfang-Zurückkehren, und die Messung der Zeit hilft uns nur, dem ganzen Vorgang seinen Platz auf der irgendwie noch begreifbaren Oberfläche des unergründlichen Universums zu geben. Die zeitliche Dimension ist das einzige immer und überall gültige Ordnungsprinzip in diesem Chaos von Universum, in diesem heillosen Durcheinander an Determiniertheit, Erinnerung und frei flottierenden Möglichkeiten (um nur ein paar der verbreiteten Probleme zu nennen).  
Nicht wissen zu wollen, wie die / wie eine Geschichte endet, suggeriert Offenheit. Und ist besonders bequem, wenn jemand anderes ohnehin schon für mich entschieden hat, wo die Geschichte hinführt. Ich kann mich beruhigt in der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft gleichzeitig bewegen. Anders als im von mir gelebten Leben weiß ich bei Fiction ohnehin meistens, wie’s grob weitergeht. Einer kriegt die Frau, den Mann, die Macht, wenn nicht der, dann die oder es. Da grätscht dann auch keiner mehr blöd rein.         
Ob sich der bereits rundgeschliffene Sand eigentlich durch das viele Rieseln irgendwann an sich selbst komplett abschleift? Ein Korn reibt sich am anderen ab, bis am Ende nichts mehr übrig ist außer einem leeren, merkwürdig geformten Glaskörper?
Das würde dann zumindest bedeuten, dass meine Sanduhr im Laufe der Zeit ungenau wird, weil die immer kleiner und glatter geschliffenen Körner immer schneller durch die Verengung flutschen.
Ich sehe nach, was der Hersteller auf seiner Website dazu sagt;
Da steht, dass in meiner Sanduhr gar kein Sand rieselt – sondern winzige, vollkommen runde, aalglatte, eigens dafür produzierte Glasperlen.